Zu Besuch in der Unterwelt

St.Galler Tagblatt – 12.09.2017 – von Christina Vaccaro

Das unterirdische Verkehrsnetz der regionalen «Abwasserstrassen» ist 332 Kilometer lang. Es transportiert Schmutzwasser von 80 000 Menschen über ein Kanalsystem bis in die Kläranlage nach Altenrhein. Ein tiefer Einblick in eine unbeachtete Welt.

Es geht hinab, Stufe um Stufe. 18 Meter tief ist der Wirbelfallschacht am Rorschacherberg. 18 Meter, die der Anbindung an die tiefer gelegene «Abwasserstrasse» dienen. Frank Lükewille, Leiter der Siedlungsentwässerung vom Abwasserverband Altenrhein, erklärt: «Der bodennahe Abwasserzulauf fliesst tangential, das heisst entlang der Schachtwände, in den Wirbelfallschacht hinein. Es entsteht ein Wirbel in dieser «Drallkammer», mit dem Effekt, dass das Wasser Energie verliert und am Ende kontrolliert in einen tiefer liegenden Kanal fliesst.»

So viel zur Theorie. In der Praxis gilt es, gut 50 Leiterstufen in einer engen Röhre hinabzusteigen. Das Herz kann demjenigen, der das zum ersten Mal macht, da schon ein wenig klopfen. Unten angekommen entdeckt man eine andere Welt. Die Wände sind feucht, es ist angenehm kühl. Nur die Nase ist über den dezenten Duft von Schmutzwasser nicht recht glücklich.

332 Kilometer umfasst das Kanalnetz von Untereggen bis St. Margrethen. Schmutzwasser von rund 80 000 Menschen muss in die Kläranlage nach Altenrhein transportiert werden. Die wenigsten Kanalrohre sind begehbar, meist sind sie zwischen 25 und 60 Zentimeter im Durchmesser. Doch es gibt auch Sonderbauwerke, wie Regenbecken, die mehr Volumen fassen.

Der Wirbelfallschacht am Rorschacherberg ist schweizweit eine Besonderheit. Dort wird das Abwasser gesammelt und in die Tiefe geschickt, um dann in einem 4,6 Kilometer langen Stollen, dem Fuchslochstollen, bis in die Gemeinde Thal zu gelangen.

Würde das Wasser geradewegs 18 Meter in die Tiefe stürzen, käme es laut Bauingenieur Lükewille zu technischen Problemen: «Bei so einer Fall­höhe wären hydraulische Turbulenzen die Folge, die man in dieser Tiefe nur schwierig im Griff hätte. Ausserdem gäbe es Geräusch- und Luftemissionen. Aus dem Schacht könnte ein Aerosolgemisch austreten, das geruchlich unangenehm ist und auch einmal zu Durchfall führen kann.» Deshalb habe man knapp zwei Millionen Franken in die Hand genommen, um das Bauwerk mit dem Wirbeleffekt zu errichten. «Das Ganze hat den Vorteil, dass wir das Wasser energielos und überwiegend geräuschlos in die Tiefe bringen können», führt Lükewille aus. Besagtes Aerosolgemisch, also eine Vermengung von flüssigen Schwebekörperchen mit der Umgebungsluft, ist der Grund, weshalb sich alle Beteiligten hier unten die Schutzmaske über Nase und Mund ziehen, bevor die Schleusen geöffnet werden.

Wasser marsch!

Es fliesst, und zwar gewaltig. Der Gedanke kommt auf, man befinde sich vor einem riesigen Wasserfall in freier Natur. Die Geräuschkulisse ist jedenfalls authentisch. Die letzten zwei Meter darf das Abwasser als kleiner Wasserfall frei herabfallen. Zwischen uns fliesst es in einer Rinne entlang in die Hauptkanalisation zum Stollen. Im trüben Schmutzwasser ist vor allem Toilettenpapier erkennbar. Hin und wieder schwimmt auch ein Exkrement vorbei. Der gesamte Kläranlagenzulauf bei Trockenwetter beträgt im Durchschnitt 210 Liter pro ­Sekunde. «Bei Regen kann sich die Abwassermenge um den Faktor 50 ver­vielfachen», erklärt Lükewille.

Lükewille gibt seinem Kollegen das Signal, das Wasser abzustellen. Der Wasserfall wird schmaler, der schmale Wasservorhang um die Schachtöffnung bleibt auch nach fünf Minuten noch bestehen. Es hilft nichts – die Autorin möchte ein Foto durch den Schacht nach oben machen. Der 48-jährige Ingenieur tastet sich vorsichtig mit den hüfthohen Gummistiefeln in die kleine «Tostasse» hinab. Der Boden wirkt zwar sauber, ein rutschiger Biofilm, wie man ihn auf Steinen in Bächen kennt, ist aber vorhanden. Es werden Hände gereicht, Spiegelreflex samt Fotografin gelangen ins Zentrum. Letztere darf nach oben knipsen.

Normalerweise führt das Team rund um Lükewille keine Journalisten herum, sondern kümmert sich um die Instandhaltung des Kanalnetzes. Jeder Kanal in der Schmutzwasserkanalisation wird alle drei Jahre gespült und im Rhythmus von 15 Jahren mittels Kanalfernsehen begutachtet. Kanalfernsehen bedeutet, dass ein kleiner Roboter mit Kugelkopfkamera durch die Rohre fährt und filmt.

Feuchttücher gehören nicht ins WC!

Trotz der professionellen Instandhaltung des Kanalnetzes wird der Abwasserverband Altenrhein auch mit Störungen konfrontiert. «Insbesondere in den Pumpwerken haben wir wiederholt Störfälle», sagt Lükewille. «Es landen immer wieder Sachen im Kanalnetz, die dort nichts zu suchen haben.» So wurden bereits Schilder, T-Shirts, Handtücher, Pistolen und Baumaterialien gefunden. Diese Gegenstände werden nicht ordnungsgemäss bis zur Kläranlage transportiert und verstopfen Kanäle oder schlimmstenfalls Pumpwerke.

«Eines der grössten Probleme, die wir derzeit haben, sind Feuchttücher. Die Industrie produziert immer reissfestere Feuchttücher, die fälschlicherweise im WC entsorgt werden und im Kanalnetz schnell Pumpwerke verstopfen. Schlimmstenfalls kommt es zu einem Rückstau in die Liegenschaften zurück oder über eine Notentlastung direkt ins Gewässer. «Feuchttücher gehören nicht in die Toilette!», appelliert Lükewille an alle Anwohner.

Es geht die lange Leiter wieder hinauf, dem Tageslicht entgegen. Ein Abenteuer war das schon. So wundert es nicht, wenn Lükewille sagt: «Die Einsätze im Kanalnetz gefallen mir sehr. Ich könnte nicht jeden Tag acht Stunden lang im Büro sitzen.»

Feiern und staunen beim Abwasser

Wie die ARA Altenrhein 50 Jahre nach der Gründung des Verbandes das Abwasser aus 15 Gemeinden reinigt, sehen Einwohner und Partner am Tag der offenen Tür. Der Anlass findet grosses Interesse.
01. Mai 2017, von Fritz Bichsel

Die ARA öffnet ihre Türen, und sofort strömen Scharen herein – von jungen Familien mit Kindern bis zu Senioren. Nach dem Rundgang drücken Besucher Staunen aus. Zuerst über das Ausmass. Auch wenn viele auf dem Weg am Alten Rhein schon vorbeikamen: So gross und vielgestaltig hatten sie sich die ARA nicht vorgestellt. Dasselbe gilt für die vielen Schritte von mechanischer über biologische bis zu chemischer Reinigung des Abwassers in jeweils mehrstufigen oder unterschiedlichen Verfahren. Und was dabei alles verwertet wird, von Gas über zurückgewonnene Rohstoffe bis zum getrockneten Schlamm als Brennstoff. Staunen kann man auch, wie die Mitarbeiter den Rundgang anlegten: Die Besucherscharen kommen sicher an mechanischen Ungetümen und riesigen Becken vorbei, auf Türme oder durchs Leitungslabyrinth und doch so nah, dass sie den ganzen Ablauf sehen.

Der Verband wirkt für 15 St. Galler und Appenzeller Gemeinden am und über dem See und dem Alten Rhein sowie an der Goldach, mit 60000 Einwohnern und vielen Unternehmen, betreibt auch ein 300 Kilometer langes Kanalnetz mit Hunderten von Bauten. Er beschäftigt dafür nur 20 Leute und arbeitet mit vielen Partnern zusammen. So füllt sich das Festzelt bereits für die Jubiläumsfeier, durch die Verwaltungsrat Beat Hirs führt. Rück- und Ausblick durch den heutigen Verbandspräsidenten Robert Raths und seinen Vorgänger Werner Meier sowie die Vorstellung des Buchs zu Entstehung und Entwicklung des Verbandes durch Autor Urs Keller zeigen: In unserer Region vollzog sich ein Wandel von massiver Gewässerverschmutzung zu vorbildlicher Abwasserreinigung. Unter Leitung seiner bisher nur zwei Geschäftsführer – 40 Jahre lang der Goldacher Urs Keller, seit 10 Jahren der Horner Christoph Egli – war der Abwasserverband Altenrhein dabei immer wieder ein Pionier für neue Verfahren und in der Forschung. Aktuell gilt das für Aufbau einer vierten Reinigungsstufe zur Elimination von Mikrovereinigungen, Rückgewinnung von Phosphor und Weiteres bis hin zum Versuch mit einer Fischfarm.

Die Kläranlage wird fünfzig

St.Galler Tagblatt, 7. April 2017

ALTENRHEIN ⋅ Mit dem Baustart der vierten Reinigungsstufe wurde eine wichtige Weiche für den inzwischen 50-jährigen Abwasserverband Altenrhein gestellt – das haben die Vertreter an der Delegiertenversammlung erfahren.

Präsident Robert Raths und Geschäftsführer Christoph Egli orientierten an der Delegiertenversammlung des Abwasserverbands Altenrhein (AVA) über den Geschäftsgang. Erstmals begrüsst wurden die Vertreter der Gemeinde Rehetobel. Seit November ist deren Klärwerk ausser Betrieb und das Abwasser wird via Eggersriet und Untereggen nach Altenrhein abgeleitet. Nach dem Anschluss der Gemeinde Speicher wird der Verband ab Ende 2017 15 Gemeinden umfassen und das Abwasser von rund 60000 Einwohnern wird mit modernster Technik behandelt.

Investition von 9,7 Millionen zu Lasten des Verbands

Mit dem Bau der zusätzlichen Ausbaustufe zur Elimination von Mikroverunreinigungen und Spurenstoffen wurde im Oktober gestartet. Das Fundament, das von 176 Pfählen gestützt wird, ist erstellt. Das Kombi-Verfahren, bestehend aus einer Ozonierung und einer nachgeschalteten Filtration mit granulierter Aktivkohle (GAK), wird Mikroverunreinigungen aufspalten und zurückhalten. Diese vom Bund vorgegebene Investition schlägt mit Brutto-Investitionskosten von 21,8 Millionen Franken zu Buche. Nach Abzug der Bundesbeiträge verbleiben zu Lasten des Verbands 9,7 Millionen an zu tilgenden Nettoinvestitionen. Der Gesamtstromverbrauch 2016 lag bei 8321 MWh. Davon wurden 5366 MWh selbst produziert. Zwecks Redundanzabsicherung und zur Erhöhung der Betriebssicherheit wurde die Beschaffung eines weiteren Blockheizkraftwerks in die Wege geleitet, das mit einer elektrischen Motorenleistung von 800 kW und einem Wirkungsgrad von über 41 Prozent parallel zum baugleichen Blockheizkraftwerk mit Baujahr 2014 betrieben wird. Die verbandseigenen Energieanlagen wurden auf die Möglichkeiten eines Regelpools geprüft. Durch das gezielte «Abwerfen» der AVA-Aggregate in Abhängigkeit vom Bedarf im übergeordneten Stromnetz kann ein Beitrag zur Stabilisierung des Stromnetzes erreicht werden. Dem AVA wurde hierfür der Infra-Watt-Innovationspreis 2016 überreicht. Die Rechnung 2016 schliesst ausgeglichen ab. Die erstmals durch den Bund eingeforderte Abwasserabgabe von neun Franken pro Einwohner belastete die Rechnung mit knapp einer halben Million Franken. Trotzdem wurden die Gebühren nicht erhöht.

Offene Türen am 50. Geburtstag

1967 wurde der Grundstein zum Bau der ARA Altenrhein gelegt. Das 50-jährige Bestehen wird mit der Bevölkerung gefeiert. Die Betriebstore werden geöffnet: Am Samstag, 29. April, zwischen 11 und 17 Uhr führt ein Rundgang durch die ARA. Eine Festwirtschaft wird betrieben.

2017

2017:
Aufnahme von Trogen und Wald in den Verband
Erstableitung vorgesehen bis 2020

Grossbau für sauberes Wasser

Fritz Bichsel, Ostschweizer Tagblatt, 30.01.2017

MIKROREINIGUNG ⋅ Bei der ARA Altenrhein läuft der Bau der zusätzlichen Stufe an. Sie wird das Abwasser auch von Mikropartikeln befreien. Bis Mitte 2018 investiert der Verband von 15 Gemeinden dafür 22 Millionen Franken.

Die Kälte legte etliche Baustellen lahm. Östlich der regionalen Abwasserreinigungsanlage am Alten Rhein kann hingegen nach dem Einrammen von Spundwänden auch bei diesem Wetter Erdreich ausgehoben werden. In den nächsten Tagen soll die Grube die projektierte Grösse erreichen. Das ist dem Abwasserverband Altenrhein (AVA) für das Gebiet von Untereggen und Goldach bis St. Margrethen und Speicher bis Walzenhausen wichtig. Denn er hat für den Bau der Grossanlage zur Elimination von Mikroverunreinigungen (EMV) aus dem Abwasser einen engen Terminplan.

Nach Auskunft von Geschäftsführer Christoph Egli soll der 22 mal 18 Meter grosse Neubau Ende dieses Jahres fertig sein. Dann kann bis zum Sommer 2018 die Technik eingebaut und im Freien ein Sauerstofftank errichtet werden. So wird die ARA Altenrhein als erste im Kanton St. Gallen und eine der ersten in der Schweiz die Vorschriften des Bundes für die EMV erfüllen. Damit bekommt der Verband rasch Geld vom Bund und wird befreit von der Abgabe von jährlich neun Franken je Einwohner oder Einwohnergleichwert bei Betrieben. Aus dieser finanziert der Bund Beiträge an Anlagen für die Mikroreinigung. Diese schreibt er Reinigungsanlagen für viele Einwohner oder nahe an einem See vor. Das verhindert, dass Rückstände von Chemikalien, Medikamenten oder Schwermetallen ins Trinkwasser gelangen.

In der Schweiz ein Pionierprojekt

Für den Vollzug sind die Kantone zuständig. St. Gallen unterstellte vorerst acht Anlagen, unter ihnen die ARA Altenrhein, der Pflicht zur EMV. Der Verband Altenrhein plante die Anlage über drei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt und dem kantonalen Amt für Umwelt und Energie. Aufgrund der Zusammensetzung des Abwassers entschied er sich für ein Verfahren, das nun in der Schweiz erstmals angewendet wird: In Ozonreaktoren mit Sauerstoff behandeln und über granulierte Aktivkohle filtern. Das ist beim Bau teuer, dafür im Betrieb und für Ausbauten sicherer und günstiger. Die Delegierten der Gemeinden bewilligten fast 22 Mio. Franken. Das Detailprojekt der Ingenieurgemeinschaft Holinger und Kuster + Hager bestand die Prüfung durch Bund und Kanton. Zum Bau, zur Umzonung auf dem ARA-Areal, zur Rodung von Bäumen und Gebüsch auf gegen 500 Quadratmetern und zur Pflanzung von Ersatz an anderer Stelle gab es keine Einsprachen. Der Verwaltungsrat unter Leitung von Robert Raths als Präsident der Standortgemeinde Thal konnte darauf die Arbeiten ausschreiben. Den Aushub und die Baumeisterarbeiten vergab er an die Gerschwiler AG in Goldach. Die technischen Anlagen für die EMV hatte er bereits bei der Projektierung ausgeschrieben, damit die Kosten genau berechnet werden konnten. Lieferanten werden hier die französische Ozonia und die schweizerische Wabag.

Ohne Preiserhöhung für Einwohner und Betriebe

Aufgrund der Prüfungen wird der Bund drei Viertel der zur Erfüllung der EMV-Vorschriften nötigen Investitionskosten zurückerstatten. Die weiteren Baukosten und die Betriebskosten übernimmt der Verband ohne höheren Preis für die Einwohner und die Betriebe. Ebenso überwälzt er ihnen die seit 2016 fällige jährliche Abgabe nicht. Das sei möglich, weil der AVA in den vergangenen Jahren Einsparungen erzielt und daraus Reserven angelegt habe, erläutert Geschäftsführer Christoph Egli.

Von der Abgabe wird der Verband befreit, wenn die EMV in Betrieb ist, frühestens ab 2019. Der AVA will ab diesem ersten Zeitpunkt bereit sein. Dafür muss er die Anlagen so erstellen, dass er via Kanton dem Bund die Bauabrechnung bis Ende September 2018 einreichen kann.