Abstieg in die Unterwelt

Finsternis. Die Tiefe verschluckt jegliches Licht. Ich spähe durch die runde Schachtöffnung, kann den Boden aber nicht sehen. Vorsichtig setze ich den Fuss auf die erste Sprosse der Leiter. Im Magen breitet sich ein mulmiges Gefühl aus – dieser Schacht führt 18 Meter senkrecht unter die Erdoberfläche.

Mit Helm und Lebensretter
Schritt für Schritt bewege ich mich abwärts. Meine Stirnlampe beleuchtet die Wand des Schachtes um mich herum. Ich traue mich nicht, nochmals nach unten zu schauen.
Endlich bin ich am Ziel: Am Boden des Wirbelfallschachtes Wiggen. Ein Mitarbeiter des Abwasserverbandes Altenrhein (AVA) wartet bereits auf mich. Er löst meinen Sicherheitsgurt aus der Verankerung. 18 Meter über unseren Köpfen beginnt Ernst Hohl, Leiter Planung und Projektierung, ebenfalls den Abstieg. Bei der Exkursion in die Unterwelt will er heute das Wehr Wiggen im Fuchslochstollen zeigen.

Dazu hat Ernst Hohl alle nötigen Sicherheitsmassnahmen getroffen: Das betreffende Strassenstück ist abgesperrt und die Feuerwehr ist über das Vorhaben informiert. Zwei Mitarbeiter begleiten uns in die Tiefe, zwei halten oben vor der Schachtöffnung Wache. Als Schutzkleidung tragen wir weisse Anzüge, Handschuhe, Gummistiefel und einen gelben Helm.

Mitarbeiter Edi Hinnen erklärt den «Lebensretter», ein Atemgerät, das im Notfall für eine halbe Stunde lang Sauerstoff spenden kann. Sollte ein Messgerät Kohlenmonoxide, Schwefel-Wasserstoff oder andere explosive Stoffe anzeigen, müssten wir den Schacht unverzüglich verlassen. «Es ist schon vorgekommen, dass der Alarm losgegangen ist», berichtet Ernst Hohl. «Aber der Lebensretter kam zum Glück noch nie zum Einsatz.»

Abwasser stinkt noch nicht
Am Grund des Wirbelfallschachtes ist der Boden rutschig, ich halte mich an der Seitenwand fest. Durch einen Seitenstollen führt der Weg zum Hauptkanal des Fuchslochstollens. Wir stehen auf einer kleinen Brücke und schauen auf ein braunes Gemisch aus Abwasser und Regenwasser hinab. Was von Eggersriet über Untereggen, Goldach und Rorschach bis Rorschacherberg das WC hinuntergespült wurde, schwimmt jetzt zu unseren Füssen. Der Geruch ist wider Erwarten nicht schlimm. «Abwasser beginnt erst in der Kläranlage zu stinken», sagt Ernst Hohl.

Der Abwasserverband Altenrhein reinigt das Wasser von 13 Gemeinden in der Region Rorschach. Die Kläranlage hat drei grosse Regenbecken, welche das Wasser zurückhalten können. Doch wenn diese voll seien, laufe das noch ungereinigte Mischwasser über und fliesse direkt in den Bodensee, erklärt Ernst Hohl. Um dies zu vermeiden, habe der AVA zusätzliche Regenbecken oder Wehre gebaut.

Im 4,7 Kilometer langen Fuchslochstollen vom Bellevue in Rorschach bis zum Fuchsloch in Altenrhein gibt es zwei Wehre. Das Wehr Wiggen beim Wirbelfallschacht ist seit gut zwei Jahren in Betrieb. Es wirkt wie ein Staudamm: Bis die Kläranlage wieder Platz hat, wird das Wasser rückgestaut. Das Wehr Wiggen hat laut Ernst Hohl ein Fassungsvermögen von bis zu 3400 Kubikmetern. Bei starkem Niederschlag könne sich das Becken innert zwanzig Minuten bis gut zur Hälfte füllen.

Plötzlich höre ich von weitem ein Rauschen und ein Getöse. «Keine Angst», sagt Ernst Hohl, als ich ihn fragend anschaue. «Das ist nur das Pumpwerk vom Strandbad Rorschach, das durch einen Seitenstollen Wasser in das Kanalnetz laufen lässt.»

Den Bodensee schützen
Durch die neue Bewirtschaftung mit den Wehren und Regenbecken könne der AVA das Wasser koordiniert sammeln, sagt Ernst Hohl. Insgesamt könnten rund 42 000 Kubikmeter ungereinigtes Mischwasser vom Bodensee ferngehalten werden. «Der Bodensee ist jetzt viel sauberer.»

Wieder am Tageslicht –beim Aufstieg war die Höhenangst wie verflogen – waschen wir uns die Hände mit Seife bei einem Wassertank am Kleinlastwagen des AVA. Die Schutzanzüge sind erstaunlich weiss geblieben. Der Abstieg in die finstere Welt unseres Kanalnetzes war eine saubere Sache.